Elvis in Bad Homburg - Bericht von Dietmar Biemel

Dietmar Biemel

Erinnerungen an die Anfänge des ersten Karate-Clubs in Bad Homburg

Jürgen Seydel gründete am 1. April 1952 den ersten Judoclub in Bad Homburg. Nach einer schwierigen Anfangszeit in Oberstedten und Bad Homburg trat er am 28. Juni 1955 der Homburger Turngemeinde bei. Nach den Sommerferien begann ich im September 1955 mit einigen Klassenkameraden aus der Kaiserin Friedrich Schule die ersten Judostunden. Wir waren damals ungefähr 15 Jahre alt und vom ersten Tag an waren wir von dieser Sportart sehr begeistert. Unser Trainer Jürgen Seydel verstand es, uns nicht nur über die Techniken dieses Sportes sondern auch über die geistigen und philosophischen Grundlagen der japanischen Kampfsportarten zu belehren. Das Training fand wöchentlich in der Turnhalle der Dorotheenstraße neben der Erlöserkirche statt. 1956 wurde das Training in die moderne Turnhalle der neuen Kaiserin Friedrich Schule verlegt.

Jürgen Seydel hatte die große Gabe, uns für immer etwas Neues zu motivieren. So fuhren wir zu den Landesmeisterschaften nach Wiesbaden und bei dieser Gelegenheit lud er das hessische Fernsehen nach Bad Homburg ein, das im Regionalprogramm eine ausführliche Sendung über den Judosport brachte. Eines Tages sprach Jürgen Seydel über die Möglichkeit, jeden Morgen zwischen 6:15 und 7:15 in unserer Turnhalle zu trainieren. Ungefähr 10 Schüler der Kaiserin Friedrich Schule waren von dieser Idee sehr angetan und nach dem täglichen Training (von Montag bis Freitag) und einer heißen Dusche fing der Schulunterricht pünktlich um 7:40 Uhr an.

Jürgen Seydel vernachlässigte es nicht, uns weiterhin über die ostasiatische Kulturwelt zu unterrichten. Von Lao-tse lasen wir alle die 81 Sprüche, welche im Tao-te-king zusammengefasst waren. Andere Kampfsportarten wurden erwähnt, unter anderem das Karate-Do. Die freie deutsche Übersetzung ist etwa „Der Weg der leeren Hand“. Eine Broschüre von Henry Plée: Karaté-Do "vaincre ou mourir" (siegen oder sterben) gab uns vage Einzelheiten über den noch unbekannten Sport. Jürgen Seydel gründete im Frühjahr 1957 den ersten Deutschen Karate Club und damit war die Voraussetzung gegeben, im Juli gleichen Jahres an einem dreiwöchigen Lehrgang in Collioure an der südfranzösischen Mittelmeerküste teilzunehmen. Gerhard Engel, Wolf Dieter Liebs und ich waren sofort bereit, daran teilzunehmen, zumal der Homburger Turnverein die Kosten des Lehrgangs und der Bahn-Hinfahrt übernahm. Am Campingplatz in Collioure machten wir die Bekanntschaft von Henry Plée und dem japanischen Karatemeister Hiroo Mochizuki. Jeden Tag fand der Unterricht vormittags und am späten Nachmittag statt. Wir lernten die Grundstellungen, sowie die verschiedenen Möglichkeiten des Angriffs und der Verteidigung. Meister Hiroo Mochizuki beeindruckte uns mit seiner perfekten Körperbeherrschung und der Geschwindigkeit seiner Bewegungen.

Meine Photos dieses Lehrgangs waren bei meiner Rückkehr die erste solide Grundlage für die Karatestunden. Im September 1957 ernannte mich Jürgen Seydel zum ersten Trainer der Karate-Lehrgruppe. Das Judotraining am Morgen in der Kaiserin Friedrich Schule wurde durch das Karatetraining ersetzt. Während der Herbstferien im Oktober 1957 fand für die Mitglieder unserer Gruppe ein zehntägiger Lehrgang auf der Freusburg bei Siegen statt. Von morgens bis abends wurde intensiv trainiert. Doch Jürgen Seydel dachte weiter. Er wollte im Jahr 1958 einen überregionalen Karate-Lehrgang organisieren. Aus diesem Grund fuhr er nach Paris, um mit Henry Plée einen geeigneten Lehrmeister zu finden. Tetsuji Murakami, ein Karatemeister aus Japan, war bereit, diese Rolle zu übernehmen. Der Lehrgang fand bei herrlichem Wetter vom 26. Juli bis zum 4. August 1958 auf den Wiesen des Forellenbades in Bad Homburg – Dornholzhausen statt. Dieser Lehrgang, an welchem ungefähr 30 Sportler (die meisten davon Judokas) aus Deutschland und Österreich teilnahmen, war der Grundstein einer bundesweiten Tätigkeit, die natürlich von Jürgen Seydel betreut wurde. Am Ende dieses Lehrgangs verlieh mir Murakami den Braungurt (1. Kyu).

In dieser Gründerzeit spielte das Karate für mich eine große, aber nicht die einzige Rolle. Je mehr ich mich für das Karate engagierte, um so schlechter wurden meine Noten in der Schule. Ich musste eine schwere Entscheidung treffen: Karate oder Abitur. Und so nahm ich immer mehr Abstand von dieser schönen Sportart, ohne den Kontakt zu Jürgen Seydel zu verlieren. Er hielt mich regelmäßig auf dem Laufenden und versäumte nicht, mir mitzuteilen, dass er bald einen neuen Schüler haben wird. Und so wurde ich von ihm zur ersten Unterrichtsstunde von Elvis Presley in der Turnhalle der Dorotheenstraße eingeladen. Meine erste Begegnung mit Elvis Presley fand an einem Samstag um 17:00 Uhr im Herbst 1959 statt. Ich kann mich nicht mehr an das genaue Datum erinnern. Vor der Turnhalle parkte eine große amerikanische Limousine und bescheiden stellte ich mein Fahrrad daneben ab. Elvis Presley, begleitet von zwei Freunden, und Jürgen Seydel waren schon zugegen. Elvis hatte seinen Karate-Gi schon angezogen und erschien mir etwas verschnupft zu sein. Ohne lange ein Taschentuch zu suchen, fand er eine einfachere Lösung mit der rechten Hand, welche er anschließend sorgfältig an seinem Karate-Gi abstreifte, bevor er sie mir dann spontan zur Begrüßung entgegenstreckte. Dies war für mich eine überraschende aber dennoch nicht übel zu nehmende Geste. Beim Austausch der ersten Worte stellte ich fest, dass er mein Schulenglisch sehr gut verstand, ich aber mit seinem amerikanischen Akzent fast nichts anfangen konnte. Zum Glück änderte sich dies verhältnismäßig schnell, so dass wir uns recht gut unterhalten konnten. Wir mussten Elvis zuerst die Grundstellungen beibringen, ohne deren Beherrschung kein Fortschritt möglich ist. Elvis verstand sehr schnell die Wichtigkeit dieser oder jener Stellung und war überzeugt, alles beim ersten Mal richtig zu machen. Dies war leider – wie bei vielen anderen Schülern – nicht der Fall. Wir gaben uns sehr viel Mühe, dies gleich am Anfang zu korrigieren. Wir trafen uns fast regelmäßig samstags in der Dorotheenstraße. Einmal übten wir nach der üblichen Eingangsgymnastik die Abwehr eines Fußangriffs auf den Brustkorb. Elvis deckte sich nicht richtig und seine beiden Hände waren weit auseinander. Wir korrigierten ihn mehrere Male, aber es war nichts zu machen. Seine Handstellung blieb unverändert in einer ungedeckten Position. Was machen? Um das besser zu demonstrieren, setzte ich wieder zu einem Fußangriff an und traf Elvis mitten in den Solarplexus. Der Getroffene fiel sofort zu Boden und schnappte verzweifelt nach Luft. Ratlos standen wir daneben, ohne ihm helfen zu können. Nach einigen Minuten stand Elvis auf, holte tief Luft und ohne irgendeinen Vorwurf sagte er: „Let’s go on!“ Nach dieser Erfahrung konnten wir feststellen, dass sich Elvis sehr gut deckte. Im Januar 1960 fuhr Jürgen Seydel mit Elvis nach Paris, um dort an einem privaten Lehrgang mit Karatemeister Tetsuji Murakami teilzunehmen. Am 16. Januar 1960 schickte mir Jürgen Seydel eine Ansichtskarte aus Paris mit unter anderen den Unterschriften von Elvis Presley und Murakami. Nach seiner Rückkehr trafen wir uns noch einige Male in Bad Homburg.

Im Januar 2008 schrieb ich an Jürgen Seydel und bat ihn, mir die genauen Daten der Elvis-Unterrichtsstunden mitzuteilen, da Elvis mich einmal in die italienische Eisdiele in der Louisenstraße gegenüber dem Kurhaus eingeladen hatte. Niemals habe ich in meinem Leben je wieder eine so große Portion Eis mit Schlagsahne gegessen. Diese Eisdiele war jedes Jahr von April bis Oktober geöffnet. Jürgen hatte einen Briefumschlag mit meiner Adresse vorbereitet, aber die Antwort blieb aus, da er im August 2008 verstarb. Nach meinen Erinnerungen gaben wir Elvis die ersten Stunden im Oktober 1959 und nicht, wie manchmal angegeben, ab dem 6. Dezember 1959. Hat eigentlich das Datum eine große Bedeutung? – Wir behalten Elvis als einen bescheidenen, offenen und sehr freundlichen Menschen in Erinnerung.

Nach meinem Umzug nach Paris im Jahr 1969 verlor ich den Kontakt zu Jürgen Seydel. Erst im Jahr 2005 konnte ich dank der Bad Homburger Archive seine Adresse ausfindig machen. Lange unterhielten wir uns am Telefon, aber sein Gesundheitszustand verhinderte leider ein Wiedersehen.


Fotos

Bild 1: Jürgen Seydel, um 1960

 

Bild 2: Dietmar Biemel – Friedrich von Samson beim Judotraining

 

Bild 3: Collioure 

 

Bild 4: Collioure, Hafen

 

Bild 5: Collioure

 

Bild 6: Collioure

 

Bild 7: Collioure, Sommer 1957, Sprung von Meister Mochizuki

 

Bild 8: Collioure, Sommer 1957, Fußangriff von Meister Mochizuki

 

Bild 9: Sprung Dietmar Biemel gegen Friedrich von Samson

 

Bild 10: Lehrgang auf der Freusburg bei Siegen im Oktober 1957

 

Bild 11: Sommerlehrgang 1958 im Forellenbad Bad Homburg – Dornholzhausen

 

Bild 12: Tetsuji Murakami mit Elvis Presley im Januar 1960 in Paris

 

Bild 13: Ansichtskarte von Jürgen Seydel aus Paris vom 16.1.1960 mit
Unterschriften von Elvis Presley und Murakami

 


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